Beatrice Voigt Kunst und Kulturprojekte & Edition: "Vom Werden"

Prolog

Wohin man derzeit auch blickt: Die Welt befindet sich offensichtlich überall im Umbruch, ist überall „im Fluss“ und von „Instabilitäten“ oder Unsicherheiten bedroht. So viel „Werden“ war selten: sei es in der Medizin- und Gentechnik, sei es in der Informations- und Kommunikationstechnologie oder sei es in so zentralen Infrastrukturbereichen wie der Nahrungsmittel- und Energieversorgung – vom Klimawandel und anderen ökologischen Problemen, von kriegerischen Auseinandersetzungen oder den Bedrohungen durch Terrorismus und Fundamentalismus nicht zu reden. Und die moderne Wissenschaft hat an diesen tief greifenden Veränderungen in unseren Vorstellungen von der Wirklichkeit, in der technologischen Umgestaltung von Gesellschaft und Umwelt, aber auch in unserem Alltagsleben einen nicht unerheblichen, ja vielleicht sogar den entscheidenden Anteil. Angesichts dieser prekären Situation ist es zusammen mit der ästhetischen Deutungskraft der Kunst die analytische und zugleich „visionäre“ Kraft der Wissenschaft, die dazu aufgerufen ist, unser Verständnis vom „Werden“ in allen Dimensionen der Natur- und Menschheitsgeschichte zu schärfen und weiterzuentwickeln. Es stellen sich Fragen wie: Was sind die grundlegenden Prinzipien und Muster, nach denen sich dynamische Systeme entwickeln, mitunter in eine „chaotische Phase“ eintreten und sich anschließend durch Selbstorganisation neu ordnen? Und wie verhalten sich hierbei „Sein und Werden“ zueinander?

Verstärkt „in Fluss geraten“ sind aber nicht nur unsere kognitiven Ansichten von der Wirklichkeit – auch unsere Werte stehen, wie selten zuvor, auf dem historischen Prüfstand! Ja, fast scheint es: Je mehr wir über die Welt an Fachwissen ansammeln, desto unklarer und brüchiger werden unsere herkömmlichen Vorstellungen vom „Guten und Richtigen“, an denen wir uns orientieren. Was bedeutet eine „Welt im ständigen Wandel“ für die ethische Fundierung des menschlichen Handelns? Und lässt uns die Eigendynamik sich selbst organisierender Systeme überhaupt noch Raum für Entscheidungen und Planungen? Bei der Suche nach einer Antwort ist es wiederum die Wissenschaft, die uns dabei helfen kann, die universellen Prinzipien der Selbstordnung von Systemen zu verstehen, die Freiräume für vernünftiges Handeln auszuloten und insgesamt die „Stellung des Menschen im Kosmos“ neu zu bestimmen. Dies wird indes nur möglich sein, wenn es gelingt, die Erkenntnisse der einzelnen Fachdisziplinen zu einem transdisziplinären Weltbild (Paradigma) zusammenzuführen.

Umso begrüßenswerter ist es daher, dass sich das geplante Symposium Vom Werden all den oben aufgeworfenen dringlichen Fragen stellt, indem es Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften auf hohem Niveau zu einem transdisziplinären Dialog zusammenbringt, der zudem den Beitrag der Kunst zu einem neuen Verständnis grundlegender Wandlungsprozesse mit einbezieht! Hierbei werden nicht nur die verschiedenen naturwissenschaftlichen Ansätze zur Entwicklungsdynamik von Systemen in Natur und Gesellschaft aufeinander bezogen, sondern auch philosophische und metaphysische Möglichkeiten integralen Denkens erkundet. Dies geschieht in der Zusammenschau unterschiedlicher wissenschaftlicher und künstlerischer Zugänge zu Werdeprozessen, die einem „fehlerfreundlichen“ und zugleich nachhaltigen Handeln komplexitätsgerechte und „prozesssensible“ Optionen erschließt. So wird die Veranstaltung auch dazu dienen, Wege zu einem neuen „synthetischen“ und ganzheitlichen Denken aufzuzeigen.

Denn erst wenn unsere Denkweise sich grundlegend ändert, kann auch ein neues Verständnis der Komplexität und Vernetztheit von allem Seienden Raum greifen und zur Grundlage einer „komplexen Ethik“ werden, die den Menschen als Mitspieler – und nicht Gegenspieler – in einer von permanentem Wandel geprägten Welt versteht. Die „Wissenschaften vom Komplexen“ haben hierfür den Boden bereits vielfältig bereitet. Damit aber deren Konzepte und Erkenntnisse auch gesellschaftlich und kulturell – insbesondere in der Bildungsarbeit – wirksam werden können, ist die Bereitschaft aller erforderlich, über fachliche und ideologische Gräben hinweg die Wirklichkeit im Ganzen neu zu denken.

Das Symposium verspricht, zu eben diesem notwendigen Umdenken einen wegweisenden Beitrag zu leisten! Die Teilnehmenden an diesem Symposium dürften somit in vielfältiger Weise von den Vorträgen, Gesprächen und Ergebnissen der Veranstaltung profitieren.

© Dr. Rainer Paslack, Bielefeld im April 2017

Rainer Paslack ist u.a. Dipl.-Soziologe, Bioethiker und Humanbiologe. Derzeit leitet er als Studienleiter am SOKO Institut Bielefeld das von der EU geförderte internationale Berufsbildungsprojekt „GET Green“ mit dem Ziel der Implementierung umweltethischer Denkweisen in die Berufsausbildung. Rainer Paslack ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen, insbesondere zu biomedizinischen Themen und zur Selbstorganisationsforschung.